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Rettung durch Untergang - Referat




„Titanic“: 280 Millionen Dollar für einen Film, der nicht mit den üblichen Verwertungsstrategien reüssieren kann; das Drama eines Filmemachers, der gleichzeitig über alle Schwerkräfte hinweg unverwechselbar bleiben möchte. James Cameron ist an die Bürde und die Glorie von Großproduktionen gefesselt wie Kapitän Ahab an den weißen Wal – für Claus Philipp zeitigt das furchterregende, ergreifende, unvergessliche Momente.

Viel ist schon vom Aufwand, vom Lärm, von Geld- und Wasserfluten rund um und auf der Titanic geschrieben, geschwärmt, gezetert worden. In den vergangenen Wochen und Tagen wurden uns wiederholt die Qualen, Kämpfe und Krämpfe vor Augen geführt, unter denen dieser Film zustande kam: Der Regisseur und seine Hauptdarsteller, brüllend oder nur nach Luft schnappend, denen das Wasser bis zum Halse steht. Riesige Hydraulikvorrichtungen, die das jähe Absacken des gigantischen Schiffsrumpfs simulieren helfen. Heerscharen von Technikern, die diese Tonnen von Stahl bewegen. Es waren Bilder einer fast altmodisch lärmenden Schlacht, mit der das teuerste Filmepos aller Zeiten beworben wurde: Hetzen, flüchten, überwältigt und weggeschwemmt werden: Diese PR-Bilder sollten das vorwegnehmen, was Titanic unverzichtbar sehenswert macht.
Man muß dagegen einmal die stillen, privaten Momente von James Camerons Werk hochhalten. Will man beim Ausdruck der Faszination, die sein Film ausstrahlt, nicht hemmungslos die unübersehbaren kriegerischen Facetten seiner Inszenierung repetieren, sollte man zuerst betonen, daß dieser große Drehbuchautor und Regisseur sehr wohl von Ruhe zu erzählen weiß, und auch von der Verzweiflung und dem Glück, die in dieser Ruhe sich erst entfalten können – auch bei Charakteren, die in diesem Film eigentlich nur Nebenfiguren oder Statisten sind.
Man denke etwa an zwei Mütter und ihr Verhalten vor und während der Katastrophe. Die eine, verarmt, aber immer noch Upperclass, schnürt einmal ihre Tochter (Kate Winslet) unter immer heftigeren Zumutungen in ein Korsett: „Du mußt diesen Mann heiraten“, sagt sie, obwohl sie weiß, daß ihr Kind in dieser Ehe unglücklich sein wird. „Du darfst nicht egoistisch sein. Das ist das Schicksal von uns Frauen.“

Die andere Mutter hat für solche Existenz-Absicherungen wenig Zeit. Mit ihren Kindern lebt sie auf dem Unterdeck, dritte Klasse, und als das allgemeine Chaos ausbricht, hat sie nicht einmal die Chance dieser Schicksalsgenossin: In zwei ergreifenden Einstellungen hält Cameron ein letztes Wiegenlied in einer mickrigen kleinen Kabine gegen das Schweigen einer wahren Egoistin im sicheren, halbleeren Rettungsboot: „Warum kehren wir nicht zurück?“, fragt eine von den Aristokraten als etwas lächerlich abgetane Neureiche (Kathy Bates). „Es sind eure Verwandten, die da hinter euch um Hilfe flehen.“ Aber die Rückkehr erfolgt nicht, und so, wie Cameron zeigt, daß die Arbeiter und weniger Betuchten gleichsam von den Rettungsbooten weggesperrt wurden, läßt er auch unter den Luxuspassagieren seines Films keine falschen Versöhnungen zu. „Arroganz, Bequemlichkeit, Gier“, sagt er, hätten das Ende der Jungfernfahrt der Titanic bestimmt. „Und nichts“, so der Off-Kommentar am Ende des Films, „würde die Geretteten von der Schuld, die sie auf sich geladen hatten, erlösen.“ Was wir dazu sehen: Erschöpfte, frierende, doch in Pelze gehüllte Wohlstandsbürger mit Rettungsjacken, und dagegen: Nachtschwarze See unter einem gnadenlos klaren Firmament; darin erfrorene weiße Leiber, ein Baby sogar – man bringt dieses tausendfache Erfrieren, wenn man es in Titanic einmal gesehen hat, nicht mehr aus dem Kopf.
Die frostige Stille als Hauptmotiv sowohl der Berichte über die Katastrophe ist auch
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stilprägend für die Bilder, die wir heute von der Titanic vermittelt bekommen, und an denen sich auch Cameron abseits des lärmenden Massenspektakels sehr eindeutig orientiert: Die fünfte Nacht der Jungfernfahrt des legendären Ozeanriesen, die gut zwei Drittel des über dreistündigen Films einnimmt, soll in der Tat „still, klar und bitterkalt“ gewesen sein. Der Titanic-Experte Walter Lord schrieb schon 1956 in seinem Bestseller A Night to Remember: „Der Atlantische Ozean war ein blanker Spiegel. Später behaupteten Passagiere, sie hätten die Wasserfläche nie so glatt gesehen.“ Und später, nach der Beschreibung der Katastrophe: „Über dem Grab der Titanic hing ein dünner nebliger Dunst und verbarg den blauen Nachthimmel. Die glatte, glasklare See war übersät mit Kisten, Deckstühlen, Planken, Säulen und Korkstücken, die von irgendwo tief heraufschnellten.“ Das verzweifelte Rufen, das letztlich nur ein Rettungsboot umkehren ließ, soll wenig länger als eine Stunde gedauert haben. Die Erschöpfung, die auf das Tosen folgt: Cameron „verschweigt“ sie nicht.

Ähnlich akribisch orientiert er sich in den unzähligen digitalen Simulationen an historischen Daten der Original-Titanic bzw. an Gemälden des britischen Illustrators und Marine-Zeichners Ken Marschall: Von dessen fast photographischer Detailtreue scheinen vor allem im ersten Drittel die anfänglich so triumphalen Ansichten des Schiffs inspiriert zu sein, die gleichzeitig unter künstlich gloriosem Abendrot immer ein wenig glatt, erfroren anmuten.
Und dann schließlich die dritte Form eisiger Ruhe, bekannt bereits aus Filmen und Photos des Unterwasserforschers Robert Ballard, der das Wrack der Titanic in den 80er Jahren entdeckte: Fahrten durch schlieren- und rostüberwucherte Trümmer einstiger Pracht in nur mühsam erhellter Tiefsee eröffnen Camerons Film. Später werden diese verfallenen Decks und Gänge mittels zauberhafter Verwandlungskunst zurückführen in den einstigen Glanz, von dem Cameron meint, er sei schwieriger darzustellen gewesen als das Desaster.
Ein kurzer Exkurs sei gestattet: „Wie macht man aus Katastrophen Kunst?“, fragt der englische Schriftsteller Julian Barnes in seiner Geschichte der Welt in 10 1/2 Kapiteln vor Géricaults Gemälde Das Floß der ,Medusa’ (1818), in dem der Maler das grauenhafte Ende einer Schiffsexpedition imaginierte, die in Meuterei und Kannibalismus gipfelte.
Das Bild erinnert in seiner extremen graphischen Komposition nackter verzweifelter Körperhaltungen am Rande zum Untergang durchaus an Elemente des zeitgenössischen desaster movies, und Barnes findet denn auch Bezüge zum Heute: „Ein Atomkraftwerk explodiert? Innerhalb eines Jahres haben wir in London ein Stück auf der Bühne. Ein Präsident wird ermordet? Sie können das als Buch haben oder als Film oder als verfilmtes Buch oder als verbuchten Film. (...) Schließlich müssen wir sie begreifen, diese Katastrophe; um sie zu begreifen, müssen wir sie uns vorstellen können, daher brauchen wir die Künstler mit ihrer Vorstellungskraft. (...) Warum ist es dazu gekommen, zu dieser Wahnsinnstat der Natur, diesem Augenblick menschlicher Tollheit? Na ja, wenigstens ist Kunst daraus entstanden. Vielleicht sind Katastrophen letzten Endes dazu
da.“
Endzeitstimmungen waren von jeher das Terrain des James Cameron, von seinen Arbeiten als Set Designer etwa für John Carpenters ersten Klapperschlange-Film, in dem er New York als Hochsicherheitsgefängnis der Zukunft imaginierte, bis herauf zu Strange Days, jenem Thriller im Los Angeles des Jahres 1999, den er gemeinsam mit seiner ehemaligen Frau Kathryn Bigelow schrieb und produzierte. Das Überleben des Terminator hätte im ersten wie auch im zweiten Film den Untergang der Menschheit bedeutet, detto die außerirdischen Monster in Aliens und die Nuklear-Sprengköpfe in The Abyss oder – hier kam es letztlich sogar zu einem, wenn auch komischen Big Bang – in Camerons letzter Regiearbeit True Lies.
Was ihm dabei bis dato zugute gehalten wurde, war eine Mischung aus comicshafter Stilisierung und schlichtweg erstaunlichem Vermögen, realistische Arbeitsbedingungen in einem Milieu von Superhelden zu beschreiben. „Wenn ich schon einen Helden erfinde, dann muß er auch jemanden retten – unter größtmöglichem physischem Einsatz.“ So distanzierte sich Cameron einst von allzu statischen Batman-Adaptionen eines Tim Burton. Sein Spider Man, Held eines langgehegten Wunschprojekts, das letztlich wegen Copyright-Zwistigkeiten nicht zustande kam, sollte „seine Fähigkeiten aus realen Extremsituationen heraus entwickeln können“.
Was für eine Vorstellung: Ein Überlebender einer Chemie-Katastrophe, gehandicapt und gesegnet zugleich mit den Fäden, die er zu ziehen imstande ist, als alter ego eines Filmemachers, der von desaströsen Szenarien gefesselt scheint wie Kapitän Ahab an den weißen Wal. Einmal nur hat Cameron in den letzten Jahren ein „kleines“, privates Projekt erwogen: The Minds of Billy Milligan, interessanterweise die Geschichte eines multiplen Schizophrenen, der seine Desaster in mannigfachen Rollen verinnerlicht, kam aber nie zustande. Stattdessen gestaltete sich jeder Film seit Aliens zu einer noch größeren Materialschlacht. Die Frage, ob Cameron selbst einmal von den Stürzen und Untergängen, die er imaginiert, betroffen sein könnte, kulminierte schließlich im Zittern und Zagen rund um die Titanic. Nahezu verdoppelt war irgendwann ein Budget, das mit ca. 150 Millionen Dollar schon bei der ersten Kalkulation jede Rekordmarke überschritt.
Wieder sollten die Schauwerte alles bisher Dagewesene in den Schatten stellen, wieder sollte – so Cameron – den hohlen, gängigen Blockbustern mit einer guten Story und überzeugenden Charakteren gegengesteuert werden. Man sieht in all diesen Dokumentationen über The Making of Titanic, wie er immer vehementer all seine Mitarbeiter vorantreibt, alle Mittel verschleißt, in der Menschen- und Materialschlacht auch sich selbst in kalte Fluten stürzt.
Natürlich kostet dieser spektakuläre Aufwand nicht nur Dekorationen und Gagen, die man dann in all ihrem Ausmaß gerade in der 90minütigen Untergangs-Sequenz gerechtfertigt sieht. Der größte Preis in Titanic ist gewiß jener, den Cameron an den allerbreitesten Publikumsgusto zahlt, wenn er unter irischen Einwanderern an Bord allzu bekömmliche Folklore als Freude des „einfachen Mannes“ ausstellt: Ron Howard hat das in Far and Away kaum kitschiger strapaziert. Und auf Celine Dions Titelsong hätte man nach einem Finale, das einem in all seiner virtuosen Melodramatik weit mehr als nur eine Träne abverlangt, auch gerne verzichtet. Aber ein „perfektes“ „bestes Epos aller Zeiten“ wäre unter den eskalierenden Produktionsbedingungen schwer denkbar.
Noch einmal also der Verweis auf eine Privatheit in Großaufnahmen, einen Mut, Atemzüge noch wahrnehmbar werden zu lassen, der das aufwühlende Spektakel immerhin zu einem der mitreissendsten Kinodramen der letzten Jahre erhebt. Schon das Plakat zum Film, auf dem Leonardo DiCaprio und Kate Winslet den gewaltigen Schiffsbug winzig erscheinen lassen, bezeugt: Hier geht es zwischen Arm und Reich, Mann und Frau, Kunst und Kapital um Emotionen in romantischer Übersteigerung. „Nichts konnte sie trennen.“
Mag Cameron auch manchmal mit seinen Dialogen nicht ganz auf der Höhe gängiger Kostüm-Melodramen sein: Seine ganze Klasse als Actionregisseur und Gestalter atmender Charaktere entfaltet er, wenn es ans Handeln geht. Der Konflikt zwischen dem armen Schlucker DiCaprio und seinem snobistischen Gegenspieler (Billy Zane) wird so zum Beispiel vermittelt über einen einzigen Wurf einer Zündholzschachtel und einen Blick über eine Tafel gelangweilt parlierender Snobs.
Erinnert sich jemand an die legendäre Sequenz in Abyss, in der Ed Harris seine unterkühlte Frau aus einem gesunkenen U-Boot retten und sie dann wieder zum Leben erwecken muß? Titanic ist voll von solchen Momenten, und der allerschönste, einfachste geht so: Di Caprio, mit Handschellen an ein Stahlrohr gefesselt, bittet Winslet, die zitternd, ja panisch mit einer scharfen Axt vor ihm steht und die eisernen Bande zerschlagen will, „doch kurz zu üben“. Natürlich geht der Test völlig schief. „Genug geübt“, sagt er, „und jetzt hau’ drauf, genau zwischen meine Hände.“ Das ist eine der schönsten Liebeserklärungen im Kino der 90er Jahre.
P.S.: „Man glaubt ein Ritual zu sehen“, schreibt der Philosoph Hans Blumenberg unter dem Titel Rettung durch Untergänge in seiner Textsammlung Die Sorge geht über den Fluß, wenn er vergegenwärtigt, wie einst Matrosen vor Unwettern Ballast abwarfen. Man könnte es auch für das verschwenderische Projekt Titanic im Rahmen des amerikanischen Mainstream-Mahlstroms lesen: „Der zornigen Gottheit wird geopfert, um den Sturm zu besänftigen. Der Mensch gibt preis, was ihm wert gewesen war, sein Leben für weite Fahrten aufs Spiel zu setzen. Opfer dürfen nicht kleinlich gegeben werden.“ James Cameron ist noch einmal davongekommen.




Dieses Referat wurde eingesandt vom User: KleinPolly



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