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1060 Tage im Kinderlandverschickungslager. - Referat



1060 Tage im Kinderlandverschickungslager.
„Deutscher Knabe, vergiss nicht, dass du ein Deutscher bist!“

von Hans Horn





Vorwort:

In unmittelbarer Wohnnähe von Vater „Zille“ erblickte ich am vorletzten Oktobertag des Jahres 1929 die Welt. Meine erste Kutschfahrt, vorbei am Schloss Charlottenburg, endete im Haus Kaiserin-Augusta-Allee 79 in der Gartenhaus-Parterrewohnung bei der Hausmeisterfamilie Julius und Anna Horn, meinen Großeltern. Drei Wochen zuvor ehelichten sich meine Eltern, der Porträtmaler Herbert Horn und die Kinderfrau Irene.
Der plötzliche Tod meiner Großmutter Anna am 23. März 1931, sie starb an Schwindsucht, die instabilen Wirtschaftsverhältnisse und familiäre Differenzen veranlassten meine inzwischen geschiedenen Eltern, mich zusammen mit meiner ein Jahr jüngeren Schwester Ruth im April 1933 ins Waisenhaus zu stecken; Berlin SW 68, Alte Jakobstraße 33/35. Im Juli 1935 erlöste mich mein Vater aus diesem seelenlosen Dasein. Im Wedding, Bellermannstraße 93, fand ich eine neue Familie, lernte meine „neue Mutti“ Cilli schätzen und lieben. Der „Ernst des Lebens“ begann für mich am 17. April 1936 mit der Einschulung in die 140. Volksschule, Gotenburger Straße 8-10. Zwei Jahre später brachte meine „neue Mutti“ ein eigenes Kind zur Welt – Horst. Eifersüchteleien, Missstimmungen stellten sich ein. Der 26. August 1940 löste eine Entscheidung aus. In dieser Nacht fielen durch Bombenschäden im Wedding die ersten Häuser zusammen.

Wer ahnt als Kind von knapp elf Jahren seine Zukunft voraus?
Zwar entging es mir nicht, dass sich Vater und Cilli im angrenzenden Schlafzimmer nach dem Zubettgehen oftmals lange unterhielten, doch der Inhalt blieb mir ungewiss. Ich wurde vor vollendete Tatsachen gestellt:
„Du darfst auch fahren.“

Mit dieser höflichen Bemerkung meines Vaters in den ersten Oktobertagen 1940 endete quasi mein 5-jähriges Zuhause, meine Kindheit, das Erleben einer elterlichen Geborgenheit; zu schätzen, zu fühlen und zu begreifen, was Familie bedeutet. Nur in den wenigen Tagen, als ich mit meiner Schwester Ruth beieinander sein durfte, animierte sie mich mit ihren Puppen zu dem Spiel: Vater - Mutter - Kind.
Wir ahmten, jeder für sich, phantasievoll nicht nur stimmlich unsere Vorbilder nach, mühten uns um die Genauigkeit von Gesten der Erwachsenen, spiegelten im Kind das eigene Ich wider; Cilli, die ich ins Herz geschlossen hatte, nicht nur wegen der Bananen mit dem Schokoladenmaikäfer zu Pfingsten 1935 - meinen Vati!

Und aus dessen Mund dann im Monat, der meinen 11. Geburtstag einschloss, die Bemerkung:
„Du darfst auch fahren.“
„Du darfst auch fahren“ hieß für mich, Teilhabe an der Kinderlandverschickung nehmen zu können, zu sollen, oder zu müssen?

„KLV“ - plötzlich ein Schlagwort in der Schule und in der Familie.
Fast gleichwertig mit diesen Begriff nistete sich das Wort „Granatsplitter“ in unseren Sprachschatz ein, denn nach jenem Augustmontag gerieten in unserer Wohnnähe mehr und mehr Straßenzüge ins nächtliche Fadenkreuz der Royal Air Force, schossen die deutschen Flakstellungen wilder um sich. Wir nahmen im Luftschutzkeller akustisch das Fortissimo durchaus wahr. Ängste drängten sich zunehmend im Halbdunkel der Kellergewölbe auf, häufiger flackerten die schwachen Glühlampen, die ohnehin Konturen schemenhaft verwischten, leises Wimmern, verhaltenes Jammern begleiteten das dumpfe Knallen, das trotz der Sandsäcke vor den Fenstern hörbar blieb. Mitten hinein in die beinahe andächtige Stimmung der Geduckten wieder das Gebrüll des Blockwarts:
„Schnauze halten!“

Blicke kreuzten, verständnisvolle, vorwurfsvolle, verzeihende. Und jeder hoffte insgeheim, oder betete gar verborgen, einen Schutzengel bei sich haben zu können.
Aber sind Schutzengel sprachgewandt?

Hoffte der Pilot in der englischen Maschine nicht auch auf einen Schutzengel, auf Erbarmen, den Granaten der deutscher Flak ohne Blessuren enteilen und dennoch seine todbringende Bombenlast zielgenau über den Wohnhäusern Berlins ausklinken zu können?

Da mir meine Eltern das Beten niemals nahe brachten, empfand ich schon ein mir bislang unbekanntes, beklemmende Gefühl angesichts der Stimmung im Luftschutzraum. Püppi zum Beispiel, die jüngere Tochter von Raudis, parterre rechts wohnhaft, schluchzte unaufhörlich vor Angst vor sich hin, obwohl ihre Mutter, eine Frau, die ich wohl nie mit zurechtgemachten Haaren zu Gesicht bekommen hatte, sie eng umarmte. Püppis Kopf lehnte an Mutters Schulter,
das Dunkelblond beider zotteligen Haarschöpfe vermengte sich ineinander.

„Ein Glück! Wieder heil davon gekommen!“, raunte es verhalten beim Hinaufsteigen nach Beendigung des Fliegeralarms. „Na! Auf unsere Flak ist doch Verlass!“, tönten forschere Typen lautstärker.

Mit den engeren Freunden, zu denen zählten weiterhin Imre und Karli aus der Stettiner Straße, trafen wir uns, um unter den Gleichaltrigen mitreden zu können, die emsig Granatsplitter sammelten.

Wohl begannen im Humboldthain unter Speers Leitung die Ausschachtungsarbeiten für zwei mächtige Bunkeranlagen1, so begnügten wir uns weiterhin mit den „Abfallprodukten“, die die Flakeinheit vom Dach des Großkinos „Lichtburg“ fallen ließ. Freilich, auch bei Imre schrumpfte die Freizeit dafür mehr und mehr. Er wurde von seiner alleinstehenden Mutter weit öfter im Haushalt gefordert als ich.

Dennoch, zu dritt gingen wir endlich auch auf Suche, erfolgreich. Doch schon mein allererster heimgebrachter Fund löste beim Präsentieren in einer ausgedienten Zigarettenschachtel einen Sturm der Empörung aus. Schließlich beendete Vaters Machtwort abrupt den Sammelgedanken. Bei ganz emsigen Sammlern reichte eine Zigarettenschachtel schon nicht mehr aus, sie schleppten ihre Beute in Zigarrenschachteln mit sich umher. Tauschgeschäfte wurden in der Schule kurzzeitig zur Mode. Die größten, meist gemessen an der Länge der scharfkantigen Eisensplitter, und besondere Formen eigneten sich zum Tauschen. Doch auch die Schulbehörde setzte gegen dieses Treiben schnell ein striktes Verbot durch. Taschenkontrollen schreckten wirksam ab.

Das Sammeln von Eisen an sich blieb eine nationale Aufgabe, mit der wir Schüler und Pimpfe uns diese oder jene Anerkennung verdienen konnten. Obligatorisch, von oben verfügt, fehlten inzwischen nicht nur allenthalben die eisernen Zaungitter, selbst im Schlosspark Niederschönhausen hatte man zum Einschmelzen die Raseneinfriedungen, „meine Balanciergitter“, herausgerissen.

Deutschland brauchte nicht nur Soldaten, für die Soldaten brauchte es Wehrhaftes aus Eisen - „Der Gott, der Eisen wachsen ließ“.
In den „Verfügungen“, die dem Sitzungsprotokoll der Lehrerschaft am 16. Oktober 1940 vom Parteigenossen, Herrn Rektor Koschker, u.a. zugefügt worden sind, hieß es:

„03.07. Altmaterial,
03.07. Sidolflaschen,
23.07. Erfassung von Alteisen usw.,
10.09. Knochensammlung,
16.10. Altstofferfassung,
31.10. Erfassung von Gummi u. Gummiabfall,
16.11. Erfassung von Schallplatten.“2

Mein Vater hatte schon einen berechtigten Grund, ab und wann, wenn das Thema darauf kam, leise jenen Refrain zu summen: „Lumpen, Flaschen, Eisen und Papier, ausgeschlag’ne Zähne sammeln wir. Lumpen, Flaschen, Eisen und Papier - ja das sammeln wir - für Hermann.“

Hauptthema in der besagten Konferenz der Lehrerschaft am Mittwoch - 16. Oktober 1940:
“Herr Rektor Koschker referierte über „Die Landverschickung von schulpflichtigen Kindern in luftgefährdeten Gebieten - also auch Berlin (Erlass des Herrn Ministers, datiert vom 2. Oktober d. Js.).“3

Die zunehmende Bedrohung der Reichshauptstadt seit dem 26. August durch britische Bomber löste, fast willkommen, hintergründig eine Welle von Entscheidungen aus, deren ausplätschernden Wogen mich mit der väterlichen Zusage erreichten.

Sondermeldungen im Großdeutschen Rundfunk informierten am 13. August 1940 ununterbrochen, dass „seit heute Kampfverbände der deutschen Luftwaffe in pausenlosen Großeinsätzen die britische Insel angreifen.“

Die vorbereiteten Pläne dazu liefen unter dem Decknamen „Adlertage“.

Mit der Übermacht von 2.355 deutschen Flugzeugen suchte das Oberkommando der Wehrmacht zunächst militärische Ziele auf der Insel zu zerstören, konzentrierte sich im September schließlich auf den Großraum London, der zunehmend auch nachts angeflogen wurde.4





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