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„Menschliches Elende“ von Gryphius - Referat



Interpretation des Sonetts „menschliches Elende“ von A. Gryphius
Der Mensch sei ein leidendes, elend geplagtes Wesen, das ein hartes Leben auf der Erde fristet, letzendes aber spurlos aus dem Leben scheide, alles Erreichte werde schließlich bedeutungslos.
Das menschliche Leben überhaupt, nichts weiter als vom Winde schnell verwehter Rauch, im Zeitalter Barock keine seltene Ansicht. Und auch heute würden sicher überraschend viele Menschen diese Einstellung partial oder auch ganz teilen, denn geklagt wird von den Menschen eigentlich immer, über Stress, Burn-out, Kopfschmerzen und so weiter. Der barocke Dichter Andreas Gryphius wurde ebenfalls schon früh vom Leid gezeichnet, allerdings hatte Leid damals noch eine andere Dimension. Früh verlor er seine Eltern, seine Jugend war von Krankheit geprägt. Auch er war ein Vertreter dieser Weltanschauung, aus seinem Sonett „menschliches Elende“ stammen die einleitenden Thesen.
In diesem Sonett richtet sich ein lyrisches Ich in einer appellativen, philosophisch-rationalen Rede an den Leser, versucht diesem seine Lebenseinstellung einzuimpfen, fordert absoluten Wahrheitsanspruch. Alle Mittel der Kunst einsetzend, von einer sehr starken Bildlichkeit über entsprechend stimmungserzeugende Adjektiven bis hin zu einer wohl temperierten Mischung aus rationalen Gedankengängen und Momenten äußerer Handlung, dürfte Gryphius damals den Leser tatsächlich für seine Weltsicht zu gewonnen haben.
Innere Handlung dominiert das Sonett, da durch die innere Handlung (Gedanken, Überlegungen) das menschliche Wesen charakterisiert wird. Momente äußerer Handlung beschreiben einen Veränderungsprozess in der Natur, der aber wiederum verwendet wird, um analog die Vergänglichkeit des Menschen zu veranschaulichen. Insgesamt ist das Gedicht sehr gedankenlastig.

In Vers eins wird die einleitend gefragt: „was sind wir Menschen doch!“. Ganz auf diese Frage ist die Handlung der ersten Strophe ausgerichtet, das innere Wesen des Menschen allgemein wird charakterisiert, als „Wohnhaus grimmer Schmerzen“ (V.1), „Ball des falschen Glücks“ (V.2), „Schauplatz herber Angst“ (V.3), „bald verschmelzter Schnee“ (V.4).
Im zweiten Quartett geht Gryphius noch einen Schritt weiter, reflektierend darüber, wie schnell Verstorbene vergessen werden („Die […] / in das Totenbuch […] / Längst eingeschrieben sind, sind uns aus Sinn und Herzen.“, V.6-8), beweist er logisch, „dies Leben fleucht dahin wie ein Geschwätz und Scherzen“ (V. 5), also hat letztendlich keinen tieferen Sinn, keine Bedeutung. Dies findet wieder Ausdruck in gedanklichen Ausführungen, die jedoch sehr allgemein gehalten werden („Dies Leben“, V.5, „Die vor uns abgelegt,…“, V.6).
Eine Steigerung noch ist im folgenden Terzett zu erkennen. Durch Momente äußerer Handlung, „wie ein Strom verscheußt, den keine Macht aufhält“ (V.10), wird wieder Gryphius‘ Gedankengang bestätigt, sogar weitergeführt: „So muss auch unser Nam, Lob, Ehr und Ruhm verschwinden.“ (V.11). Dieses Muster wird fortgesetzt in der letzten Strophe, wieder werden durch äußere Handlung innere Gedankengänge ergänzt und belegt „Was itzund Atem holt, muss mit der Luft entfliehen“ (V. 12), also: „Wir vergehn, wie Rauch von starken Winden.“ (V.14),
Gryphius hat diese Mischung aus äußerlicher Handlung und innerer Gedankengänge sicherlich mit Bedacht gewählt; glaubwürdig, da logisch an äußerlichen Vorgängen belegt kann er seine Gedanken als allgemein gültig fingieren, der Leser stimmt seiner Charakterisierung des Menschen zu.
Seine große Tragweite und Allgemeingültigkeit erhält das Gedicht auch durch direkte Ansprache des Lesers und ein in der wir-Situation aufgehendes, appellatives lyrisches Ich. Der Leser wird in die Kommunikation mit einbezogen, in einer philosophisch-rationalen Rede legt das lyrische ich seine Sicht des Menschen dar.
Gleich zu Anfang wirft Gryphius eine der größten philosophischen Fragen überhaupt auf, die Frage, was wir Menschen eigentlich seien. Doch er stellt sie nicht offen, sondern formuliert sie vielmehr als empörten Ausruf „Was sind wir Menschen doch!“ (V.1). Dies impliziert von vorne herein, dass er selbst die Antwort auf diese Frage kennt. Appellativ wird der Leser mit einbezogen („wir“), Gryphius weiß also auch über Sinn und Leben des Lesers Bescheid. Das lyrische ich selbst hat keinen persönlichen Auftritt. Es geht auf in der Vereinigung und Verallgemeinerung der angesprochenen Masse aller Menschen, stellt sich selbst erst im letzten Vers heraus. Eine solche Verbrüderung mit dem Leser, auch wenn sie diesem gewissermaßen aufgezwungen wird, fördert unterbewusst dessen Zustimmung. Das alles trägt außerdem auch dazu bei, dass das Sonett wie eine Rede anmutet. Als Redner bezieht sich das lyrische Ich mit ein, jedoch gibt es auch appellative Momente, „So muss auch unser Nam, Lob, Ehr und Ruhm verschwinden“ (V.11), die zeigen sollen, das lyrische Ich hat einen distanziert-differenzierten Blick auf die Thematik. Endgültig beendet wird die Rede schließlich mit dem Fazit-artigen Schlussgedanken „Wir vergehn, wie Rauch von starken Winden“ (V.14).
Mit diesem Sonett sucht Gryphius die Frage nach dem Sinn des Lebens zu beantworten, es hat hohen Wahrheitsanspruch. Ein lyrisches Ich, das als Mensch unter Menschen in einer Art rationalen, philosophischen Rede teilweise appellativ diese Frage beantwortet fördert diesen Wahrheitsanspruch noch, wirkt sehr überzeugend auf den Leser.
Zahlreiche Adjektive erzeugen anfangs eine düster-melancholische, bedeutungsschwere Stimmung. Da im Laufe des Gedichts aber die Zahl der Adjektive abnimmt, resigniert das zuerst klagende lyrische Ich mehr und mehr, lehnt sich nicht gegen sein Schicksal auf sondern akzeptiert dieses.
Sicherlich die meisten Adjektive finden sich in der ersten Strophe, und es sind ausschließlich negative Adjektive, die in Verbindung mit entsprechenden Substantiven als Genitivobjekte positive Wörter ins Negative umkehren. „Ein Wohnhaus“, eigentlich Ort der Wärme und Geborgenheit wird beklemmend, bedrohlich einengend durch die Ergänzung „grimmer Schmerzen“ (V.1), genauso wird „Ein Ball“, Spielzeug fröhlicher Kinder, zu „Ein Ball des falschen Glücks“ (V.2), „ein Schauplatz“ wird düster mit „herber Angst“ (V.3). Diese äußerst melancholische, bedrohliche Stimmung erzeugt im modernen Leser wahrscheinlich erst einmal Diskrepanz und Ablehnung, jedoch entspricht sie der barocken Weltsicht und dürfte mit der des damaligen Lesers durchaus identifizierbar sein.
Strophe zwei und drei unterscheiden sich deutlich von der ersten, die Sprache des lyrischen Ichs wird weniger emotional engagiert, es finden sich deutlich weniger Adjektive. Vielmehr wird durch aussagekräftige, starke Substantive („Totenbuch der großen Sterblichkeit“, V.7, „Sinn und Herzen“, V.8, „Nam, Lob, Ehr und Ruhm“ V.11) eine getragene, bedeutungsschwere Stimmung erzeugt. Zum Ende hin jedoch resigniert auch diese Stimmung, Sätze beginnen in Vers 12, 13 und 14 einheitlich mit „Was…“. So ist auch das Fazit, das das lyrische Ich im letzten Vers zieht ernüchternd rational, „Wir vergehn, wie Rauch von starken Winden“ (V.14), keine Empörung, keine Klage. Dieses Ende wird vom lyrischen Ich dargestellt als sicher und unabwendbar.
Das anfangs starke emotionale Engagement des lyrischen Ichs ebbt ab wird erst getragener, zum Ende hin fehlen illustrierende Adjektive, ernüchtert ergibt sich das lyrische Ich scheinbar seinem Schicksal. Die Stimmung eines Gedichts ist immer auch sehr prägend auf die Wahrnehmung durch den Leser. Die Botschaft, dass am Ende alles nur Schall und Rauch war wird unterstrichen durch das resignierende lyrische Ich, das dieses Schicksal hinnimmt.
Auffällig ist auch die sehr starke Bildlichkeit, die diesem Gedicht von Grund auf innewohnt. Dem Zweck der Anschaulichkeit dienend werden Vergleiche gezogen, wird an Metaphern nicht gespart. Der stark einbezogene Leser (s. Kommunikation) wird so gebunden an das Gedicht, Spannung wird erzeugt auch durch eine Klimax.
Durch Metaphern wird in der ersten Strophe das menschliche Wesen charakterisiert. Menschen seien „Ein Wohnhaus grimmer Schmerzen“ (V.1), „Ein Ball des falschen Glücks“ (V.2), …, „Ein bald verschmelzter Schnee und abgebrannte Kerzen.“ (V.4). Die bildliche Sprache bringt dem Gedicht Schwung, das lyrische
Ich redet sich durch diese opulenten Formulierungen sozusagen warm, was natürlich gleichzeitig auch den Leser gut einstimmt auf das Kernthema des Gedichts.
Wieder zeigt sich in der zweiten und dritten Strophe ein Unterschied; das lyrische ich wirft nicht weiter mit mehr oder weniger bedeutungsschweren Metaphern um sich, sondern zieht beschreibende Vergleiche zur Präzision und Ausführung seiner „Thesen“, „Dies Leben fleucht davon wie ein Geschwätz und Scherzen“ (V.5), „Gleich wie ein eitel Traum leicht aus der Acht hinfällt / Und wie ein Strom verscheußt, den keine Macht aufhält, so muss auch […]“ (V.10-11). So wird Abstraktes sehr Anschaulich und plastisch, sehr Nachvollziehbar für den Leser. Weniger schnell zu verstehen ist die komplizierte, auf 3 Verse ausgedehnte Allegorie „Die vor uns abgelegt des schwachen Leibes Kleid / Und in das Totenbuch der großen Sterblichkeit / Längst eingeschrieben sind, […]“ (V.6-8) für die bereits Verstorbenen Menschen. Man muss allerdings sagen, gerade so etwas verleiht einem Gedicht Tiefe und Poesie, genauso werden in Vers 12 und 13 Umschreibungen gefunden, für Lebewesen: „Was itzund Atem holt“ und für alle zukünftigen Lebewesen: „Was nach uns kommen wird“. In Vers 11 reiht das lyrische Ich Klimax-artig „Nam, Lob, Ehr und Ruhm“ aneinander, was zum einen die Spannung erhöht, zum anderen aber auch dem Gemeinten mehr Emphase verleiht. Der letzte, der essentielle Vergleich verbirgt sich in der letzten Strophe, „Wir [Menschen] vergehn, wie Rauch von starken Winden“ (V.14). Das gewählte Bild des vom Winde verblasenen Rauches ist tatsächlich so stark, dass es über einen gewöhnlichen Vergleich hinaus geht, das menschliche Wesen wird eigentlich Großteiles neu definiert.
In seiner Rede knüpft das lyrische Ich ein Netz aus poetischen Vergleichen, die des Lesers Aufmerksamkeit fordern und binden. Die vielen Metaphern der ersten Strophe sind „anfixend“, stimmen den neugierigen Leser ein. Beginnend mit der Klimax werden die zugezogenen Vergleiche sogar so stark, dass sie über eine lockere Illustration hinausgehen und Gesagtes neu definieren.
Die barock-typische Gedichtform Sonett wird auch hier eingesetzt, um Ambivalenzen klarer aufzuzeigen, einerseits existiert die Klage über ein schlechtes, leidvolles Leben, andererseits aber eben auch die Vergänglichkeit und Bedeutungslosigkeit des Lebens. In einer Sonett-typischen Synthese wird beides verbunden.
Wie gemeinhin üblich werden in den Quartetten auch hier zwei Gegensätzliche Thesen ausgeführt. In der ersten Strophe findet die emotionale Klage über das menschliche Leben Ausdruck, Menschen seinen „Ein Wohnhaus grimmer Schmerzen“ (V.1), [usw.]. Kontrovers dazu steht die These des zweiten Quartetts, „das Leben fleucht davon wie ein Geschwätz und Scherzen“ (V.5), die in der nächsten Strophe sogar noch ausgeweitet wird. Nicht nur hätte das Leben keinen tieferen Sinn, es spielt auch keine Rolle welchen gesellschaftlichen Stand Menschen innehätten, letztendlich müsse „auch unser Nam, Lob, Ehr und Ruhm verschwinden“ (V.11). Das letzte Terzett greift nochmal kurz den körperlichen Aspekt des Lebens auf, über den in der ersten Strophe geklagt wurde, „Was itzund Atem holt muss mit der Luft entfliehen“ (V.12), und den Aspekt des ewigen Kreislaufs des Vergessens aus Strophe zwei; „Was nach uns kommen wird, wird uns ins Grab nachziehen“ (V.13). Im letzten Vers kommt die Synthese beider Ansichten, „Wir vergehn wie Rauch von Starken Winden“ (V. 14). Diese ist hier sehr eng verknüpft mit dem einleitenden Ausruf „Was sind wir Menschen doch!“ (V.1), durch die Formulierung „Was sag ich?“ (V.14) wird dieser nochmal aufegriffen. Sie liefert eine mit beiden Ansichten übereinkommende Antwort auf die zentrale Frage des Gedichts.
Im Prinzip erzeugt Gryphius durch die Sonettform einen Scheinwiderspruch. Wie kann das Leben gleichzeitig so mühselig und geplagt und letztendlich aber in jeglicher Hinsicht bedeutungslos sein? Erschreckend allerdings, dass dies nicht unbedingt ein Widerspruch sein muss, sondern beides ergänzt sich tatsächlich gut, wie in der Synthese deutlich wird. So wird das diesseitige Leben gleich doppelt abgewertet.

Nach umfassender Gedichtanalyse ist vorab festzustellen: Sehr subtil gestaltet Gryphius dieses Sonett. Alle analysierten Eigenschaften ergänzen sich, Ihre Kombination kreiert starke Leserlenkung. Durch logischen Beleg innerer Gedankengänge mit äußeren Vorgängen kann Gryphius seine Ansichten als allgemein gültig inszenieren, Metaphern in der ersten Strophe stimmen den Leser ebenso auf das Gedicht ein wie die durch Adjektive erzeugte, düstere Stimmung. Beides verliert sich allerdings im weiteren Verlauf, statt Metaphern werden stärkere Vergleiche eingesetzt, die, unterstrichen von der resignierenden Stimmung, die zentrale Botschaft des Gedichts etablieren, dass das irdische Leben spur- und bedeutungslos vorübergeht. Eine solche tiefgreifende Botschaft hat naturgemäß hohen Wahrheitsanspruch, Gryphius wird dem gerecht indem er sie von einem lyrisches Ich als Mensch unter Menschen in einer Art philosophisch-rationalen Rede verkünden lässt. Auch der durch die Sonettform erzeugte Scheinwiederspruch wandelt sich in eine verstärkte Bestätigung dieser Botschaft, das irdische Leben wird doppelt abgewertet, da es mühselig und leidvoll ist, aber letztendlich spurlos vorbeigeht und bedeutungslos bleibt.
Überraschender Weise gelingt es Gryphius so auch heute noch, modernen, aufgeklärten Menschen einen wichtigen Denkanstoß zu geben. Sehen wir wirklich einen Sinn hinter unserem ungebremsten Immer-höher-hinaus-Wollens? Ist unser Karrierestreben mit den einhergehenden Symptomen wie Burn-out, ADHS, Asthma tatsächlich nicht eigentlich unsere „moderne“ Art, unser Leben hier auf Erden gehetzter zu machen? Viele Leute haben heute eine pessimistischere Lebenseinstellung als noch vor wenigen Jahren. Sehen wir wesentliche Dinge nicht mehr, wäre es nicht wohltuend, sich auf spirituelle Wurzeln zurückzubesinnen? Beunruhigend ist auch, dass Gryphius bezüglich des kollektiven Vergessens Verstorbener heute immer noch Recht hat. Getrauert wird oft nicht mehr als einen Monat, dann geht das Leben weiter als hätte es den Verstorbenen nie gegeben, oder es muss weitergehen, damit die Zurückgebliebenen nicht vor lauter Trauer den Anschluss an das gesellschaftliche Treiben verlieren und auf der Strecke bleiben. Man kann also heute auch sagen, dass ein einzelner Mensch mit seinem Leben keine große Spur hinterlassen wird, mit Ausnahme vielleicht einiger wirklich großer Persönlichkeiten, die unsere Gesellschaft entscheidend weiter gebracht haben. Alle Menschen dieser Erde zusammen werden aber tatsächlich Spuren hinterlassen, man denke an Überfischung der Meere oder auch natürlich den anthropogenen Treibhauseffekt. Vielleicht werden deshalb künftige Generationen der Weltsicht Gryphius‘ immer noch zustimmen. Denn was im Barock der blutige Glaubenskrieg war, was heute für uns die Symptome unseres Karrierestrebens sind, werden für diese Menschen möglicherweise Klimakatastrophen, Kriege um sauberes Trinkwasser, Massenmigrationen sein.




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